Die gesellschaftlich-kulturellen Funktionen und Entwicklungen des höfischen Romans am Beispiel Wolfram von Eschenbachs

Dieser Text folgt einer Niederschrift aus dem Gedächtnis nach meiner schriftlichen Staatsexamensprüfung im Fach Deutsch. Er steht nun im Web, weil er vielleicht am besten begreiflich macht, was mich an der Mediävistik so fasziniert und warum die Beschäftigung mit der Literatur und Kultur des Mittelalters uns helfen kann, unsere heutige Gesellschaft besser zu verstehen. Auch wir sind in einer Umbruchsphase.

Im frühen Mittelalter beschränkte sich der Literaturbetrieb im wesentlichen auf die Klöster. Dort wurden, fast ausschließlich lateinisch, Bibel, Schriften der Väter und theologische Traktate gelesen und (ab-)geschrieben. Nur allmählich übernahmen die Fürstenhöfe die kaiserliche Einrichtung einer Schreibstube. Daher entwickelte sich erst etwa in der Mitte des 12. Jahrhunderts verschriftlichte höfische Epik.

Im Gegensatz zu vielen Minnedichtern wissen wir von den höfischen Epikern nur wenig. Da es hohe und höchste Adlige unter den Minnesängern gab (allein die Manessische Sammelhandschrift nennt über ein Dutzend Fürsten), sind sie oft urkundlich bezeugt. Anders die Epiker: Hier haben wir meist nur das, was sie selbst oder ihre Kollegen uns über sie mitteilen. Wenigstens die erstgenannte Quelle ist von zweifelhaftem Wert: Gerade Wolfram gestaltet ganz offensichtlich einen fiktiven Erzähler. Von diesem berichtet er im »Parzival«, er habe Bruder, Schwester, Frau und eine kleine Tochter und besitze ein bescheidenes »hûs«.

Ähnlich problematisch ist die Frage nach dem Stand der Dichter. Wenn der Erzähler des »Parzival« »schildes ambet« für sich beansprucht und betont, er werde von den Frauen um seiner Taten, nicht um seiner Worte willen begehrt, so scheint er dem bis in unsere Tage tradierten Vorurteil zu erliegen, demzufolge Frauen grundsätzlich rauhe Kämpen den Dichtern und Denkern vorzögen. - Allein der zeitliche und wirtschaftliche Aufwand für die Produktion des »Parzival« legt nahe, in Wolfram einen Berufsdichter zu vermuten.

Auch bei der Bildungsfrage herrscht Ratlosigkeit: Wolfram betont, er könne weder lesen noch schreiben. Vielleicht ist dies nur eine Spitze gegen bildungsbewußte Kollegen wie Hartmann von Aue (»ein ritter so geleret was, daz er an den bouchen las«), denn Wolfram beweist in seinen Werken profunde Kenntnisse in allen Wissenschaften seiner Zeit. Andrerseits »fehlen« ihm die klassischen Schulautoren, und bei all seinen Quellenberufungen unterläuft ihm kein einziges »ich las«.

Was das höfische Publikum anbelangt, ist davon auszugehen, daß außer dem Klerus nur einige Frauen lesekundig waren. Die höfischen Romane wurden also wohl eher vorgetragen als selbst gelesen. Lautes Vorlesen des »Parzival« dauert etwa 24 Stunden. Nach welchen Kriterien die Lesung geliedert wurde, wissen wir nicht. Vermutlich waren äußere Umstände entscheidend.

Gedichtet wurde vor allem nach französischen Vorlagen. Der »Parzival« hat den »Perceval« Chrétien de Troyes zum Vorbild, eine Geschichte aus der keltischen Sagenwelt (matière de Bretagne). Seltener wurden altfranzösische Heldenepen (chanson de geste) als Basis benutzt; der »Willehalm« tut dies. Ganz ohne Vorlagen zu dichten war für einen Autor des Mittelalters undenkbar. Wenigstens fiktive Vorlagen waren erforderlich, wollte man nicht Gefahr laufen, der Lüge bezichtigt zu werden. Die Kunst des höfischen Romanciers manifestiert sich nicht in der Erzählung von etwas neuem, niegehörten, sondern in der edlen Gestaltung eines bekannten Stoffes. Die sogenannten Titurel-Fragmente Wolframs bilden die einzige uns bekannte Ausnahme von dieser Regel, denn sie scheinen allein Wolframs Phantasie entsprungen zu sein.

Es sind uns etwa 15 sogenannte Artusromane überliefert, wobei wir von Wolframs »Parzival« die meisten Abschriften besitzen, ganz oder in Bruchstücken über 80 Stück. Kennzeichnend für den Artusroman ist der (zumeist statische, passive) Hof König Artus' mit der Tafelrunde. Der ritterliche Protagonist bricht auf, erlebt aventiure, erwirbt ein Land und eine Frau und kehrt an den Hof zurück. Dort begeht er einen schweren Fehler und muß eine weitere Fahrt unternehmen, bis er wieder als vollwertiges Mitglied zur Tafelrunde zurückkehren kann. Bereits Chrétiens »Perceval« geht aber über dieses Modell hinaus durch die Schaffung einer Parallelhandlung um den Gral. Während etwa Hartmann seine beiden Artusromane ganz diesem Schema unterwirft und damit die mittelhochdeutsche Epik zu völlig neuen stilistischen Höhen führt, sprengt Wolfram selbst den Aufbau des Chrétienschen »Perceval« in seinem Werk und erhält nur einzelne Aspekte des »klassischen« Artusromans.

Ihre französischen Vorlagen erhielten die Dichter von ihren fürstlichen Mäzenen zur Verfügung gestellt. Diese setzten Zeit und Energie daran, sie durch ein europaweites Beziehungs- und Verwandtschaftsgeflecht zu erwerben.

Welche Gründe nun bewogen einen Fürsten, Geld, Zeit und Aufwand zu investieren, um einem Hofdichter Vorlage, Arbeitsmaterial und Lebensunterhalt zu stellen? Zunächst einmal mehrte die Anwesenheit eines Hofdichters den Glanz des Hofes. Jeder Gast sah so den Reichtum und die schöngeistigen Interessen des Herrn. Auch wurden in die Dichtung eingeflochtene Huldigungen an anderen Höfen, an denen Abschriften gelesen wurden, registriert.

Aber es bestand auch ein großes inhaltliches Interesse an Stücken, die französische Hofkultur beschrieben (vgl. etwa Cundries Mode aus Paris und deren detailreiche Beschreibung durch Wolfram): Die gerade erst seßhaft gewordenen deutschen Fürstenhöfe befanden sich in einer Phase der Selbstdefinition durch Abgrenzung nach außen und Schaffung einheitlicher Normen für Ethik und Verhalten nach innen (vgl. Parzivals Unterweisung durch Gurnemanz). Literatur unterhielt nicht nur, sie orientierte vor allem und belehrte. Von den durch Wolfram aus dem Französischen und Niederdeutschen entlehnten (er nennt im »Parzival« über 400 franz. Begriffe) oder entstellten Begriffe fanden etliche Eingang in die Sprache des Hofes.

Im folgenden soll nun untersucht werden, wie Wolfram in seinen Texten höfische Diskurse und Rollenbilder aufgreift und darstellt. Dabei ist wichtig, daß Wolfram, wie er im Prolog und im vielzitierten Bogengleichnis ausführt, stets das sowohl - alsauch, Schein und gebrochene Wirklichkeit in den Blick rückt. Hartmanns stilisierte Typen sind ihm fremd.

Ein erstes sehr großes Thema Wolframs ist die rechte Minne und die Rolle(n) der Frau. Schon in der Gahmurethandlung der ersten beiden »Parzival«-Bücher geht er hierauf ein: Belakane ist repräsentativ für viele später auftauchende Frauen in ihrer Unfähigkeit, ihr Land allein zu regieren und zu beschützen. Stets muß ein heldenhafter Ritter vorbeikommen und Frau und Land ansichnehmen. Einzig Orgeluse durchbricht dieses Cliché: Sie regiert nicht nur ihr Herzogtum allein, sie demütigt und unterwirft auch vorbeireitende Ritter. Die Frau des Mittelalters war weitgehend rechtlos. Zumeist weder erb- noch lehensberechtigt, wurde sie oft ungefragt verheiratet oder ins Kloster gesteckt. Rührender Minnedienst ist literarische Fiktion mit Besserungsabsicht. Allerdings darf man sich die Beurteilung nicht zu leicht machen: Es kam durchaus vor, daß ein Herrscher für die Dauer mehrjähriger Abwesenheit seiner Frau die Regierungsgeschäfte und alle Vollmacht übertrug, oft zu seinem Segen. Außerdem repräsentierten die Frauen - wie oben erwähnt - neben dem Klerus die höfische Bildung. Diesen Zwiespalt zeigt auch Wolfram: Artus' Königin hat eigenes Personal und kann hinter dem Rücken ihres Gatten Politik machen, doch kann es bei Parzivals erstem Besuch der (desolat dargestellten) Tafelrunde geschehen, daß ein Truchseß eine adlige Dame schlägt, ohne daß einer der Ritter protestierte. Auch Orilus' Bestrafung Jeschutes zeigt die rechtlose Stellung der Frau. Andrerseits wird der Vergewaltiger Urjans entehrend bestraft. »Richtige Minne ist wahre Triuwe«, so formuliert Wolfram im zweiten Minneexkurs. Und tatsächlich ergeht es Gahmuret, der Belakane so schnell verließ, ausgesprochen unhöfisch: Letztlich haben drei Frauen begründeten Anspruch auf ihn, und gegen seinen Willen wird er durch Richterspruch mit Herzeloyde vermählt. Dies mußte den zeitgenössischen Rezipienten als äußerst gelungene Persiflage der realen Verhältnisse erscheinen. Herzeloyde zieht sich nach Gahmurets Tod in die Einöde bei Soltane zurück und scheint dort eine vorbildlich besorgte Bilderbuchmutter zu sein. Tatsächlich jedoch enthält sie Parzival die ihm zustehende höfische Erziehung vor und verursacht so fast alles folgende Übel. Während Parzivals torenhaftes Verhalten Jeschute in arge Bedrängnis bringt, führt er später mit Condwiramurs eine treue und vorbildliche Ehe. Die außerordentliche Qualität dieser Minne bestätigt sogar Gottvater, wenn er später zu ihren Gunsten die Gralsgesetze außer kraft setzt.

Der vorbildliche Ritter Gawan hingegen muß sich von Orgeluse unhöfische Erniedrigungen gefallen lassen. Die Beziehung zwischen Sigune und Schionatulander - beides fast noch Kinder - im ersten Titurelfragment gehorcht allen Konventionen höfischer Minne. Im zweiten Fragment begeht Sigune jedoch den entscheidenden Fehler ihres Lebens, als sie Schionatulander den unhöfischen Minnedienst aufträgt, einen Hund zu verfolgen. Im »Parzival« wird die jungfräuliche-verheiratete Trauernde als Verkörperung treuester Minne gepriesen. Im »Willehalm« zeigt Wolfram eine eheliche Liebe, die über alle Kulturschranken und trotz des erbitterten Widerstandes der halben Welt (im Wortsinne) funktioniert. Am dramatischsten thematisiert Wolfram die Bedeutung der Minne für das höfische Leben jedoch in der Darstellung von Schastel Marveile: Vom entmannten Zauberer Clingschor verflucht, gibt es dort keine Beziehungen zwischen Frauen und Männern. Dies führt zu einer vollständigen Lähmung des höfischen Lebens, die auch nach der Erlösung durch Gawan nur sehr langsam weicht und erst bei der Massenhochzeit beim pompösen Hoffest zu Joflanze endgültig besiegt ist. Wolfram zeigt einige Parallelen zwischen Schastel Marveile und Munsalvaesche auf, etwa die Wundersäule als Grals-Pendant. Doch ist die eine Keuschheit gottgewollt, die andere ein böser, gesellschaftsvernichtender Fluch.

Ist es möglich, gleichermaßen Gott und der Welt zu gefallen? - Diese im Mittelalter heiß diskutierte Frage bejaht Wolfram im Epilog des »Parzival« ausdrücklich. Religion war im Leben der Menschen des Mittelalters integraler Bestandteil. An der Existenz von Gott, Jüngstem Gericht und Hölle zweifelte niemand ernsthaft. Die Vergänglichkeit der irdischen Existenz stand jedermann anschaulich vor Augen. So war denn die zu Beginn dieses Absatzes gestellte Frage das brennende Thema schlechthin. Über den gewöhnlichen Artusroman hinausgehend gibt es im »Parzival« die Welt des Grals. Parzivals Weg wird durch seine christlichen Sünden bestimmt, nicht durch höfische Protokollverstöße. Seine »Heldentat« besteht darin, am Karfreitag vor Trevrizent die Rüstung abzulegen und Buße zu tun. Ein etwas anderer »miles christi«! Viel von Parzivals Verirrungen, die im Gotteshaß gipfeln, resultiert aus dem einseitigen Gottesbild, das Herzeloyde ihm vermittelte. Erst, als er zum dritten Mal in seinem Leben fragt »was ist Gott«, erhält er von Trevrizent eine hilfreiche Deutung und Erklärung der Heilsgeschichte. Überhaupt geschieht »Zeit« nur vor Gott, der gottlose Parzival verliert jedes Zeitgefühl. Wolframs Werke handeln stets von Großfamilien. Im »Willehalm« stehen sich einerseits fast der ganze Orient und Okzident, andrerseits im wesentlichen die Heere zweier Familien (die zudem miteinander verwandt sind) gegenüber. Auch das Personal des »Parzival« ist vollständig miteinander versippt. Und je reifer Parzival wird, desto besser kennt er diese Verwandtschaften. Das existentielle Problem Gahmurets, das die ersten beiden Bücher des »Parzival« bestimmt, ist sein Ausschluß aus dem Sippenverband durch das französische Erbrecht. Werden im »Parzival« Bewegungen beschrieben, so nie geographisch, sondern vielmehr anhand der Verwandtschaft der beteiligten Personen. Wolfram reflektiert hier literarisch den Übergang vom Personenverbands- zum Flächenstaat.

Die Faszination des Fremden nutzt Wolfram, wenn er von der Herkunft seiner Quellen oder des Grals spricht. Doch auch wenn die auftretenden Ritter, Damen und Herrscher aus noch so fernen Landen stammen - stets verhalten sie sich höfisch, stets wird ritterlich gekämpft. Dies gilt für den »Willehalm« ebenso wie für die Gahmuretbücher und die Feirefizerzählung. Auch in Munsalvaesche gilt höfisches Protokoll, und genau an fehlverstandener Anwendung dieser Regeln scheitert Parzival. Wolfram schildert - den Bedürfnissen seiens Publikums folgend - sehr ausführlich Details dieses Protokolls, bei der Beschreibung des Hoffestes zu Joflanze (wer wen warum wie grüßt etc.) ebenso wie bei der Schilderung von Artushof und Munsalvaesche. Bei der Beschreibung des Festes am Vorabend der Entscheidungsschlacht im »Willehalm« reflektiert er am Beispiel von Willehalm und dessen Vater den theoretischen Hintergrund höfischen Zeremoniells: Willehalm selbst vernachlässigt angesichts der heidnischen Bedrohung das tradierte Protokoll, er möchte pragmatisch das Notwendige tun. Für seinen Vater hingegen bedeutet höfisches Verhalten keine sinnentleerte Phrase, sondern Fundament dieser Gemeinschaft, Symbol für die Einigkeit der höfischen Welt. Daß diese Anschauung nicht nur bei Willehalm darniederliegt, sahen die Hörer und Leser schon zuvor: Als Willehalm an den Hof des Königs kam, verhielt sich nur ein Kaufmann höfisch. Welche Schmach für den Königshof, wenn der einzig höfische kein Adliger ist, eigentlich garnicht zum Hofe gehört! Willehalm selbst allerdings verletzt am Folgetag das Protokoll noch dramatischer: Ungewaschen und ungepflegt sitzt er an der königlichen Tafel und speist dennoch nicht mit den anderen, zuletzt springt er gar über die Tische, reißt der Königin die Krone vom Kopf und bringt sie fast um. Unhöfischer kann ein Fürst kaum gezeichnet werden.

Wie es tatsächlich bei Hofe zuging, läßt sich nur erahnen. Von den kultivierten Schilderungen der höfischen Epiker dürfte auch hier die Realität ein gutes Stück entfernt gewesen sein. Die tafelnden Ritter waren rohe Haudegen, schwerlich beherrschten sie das ideale höfische Protokoll. So ist denn auch das von Wolfram dargestellte Ritterbild mehrschichtig: In Parzivals Unterweisung durch Gurnemanz werden Tugenden, Verhaltensweisen und Kampftechniken der Ritter vorgestellt. Dafür verzichtet Wolfram auf die bei Chrétien geschilderte Schwertleite Parzivals; anscheinend wird dieser durch den Raub von Ithers Rüstung und Waffen (nach unhöfischem Kampf) bereits automatisch zum Ritter... Auffällig sind auch die Schellen an Parzivals Narrenkostüm in ihrer Ähnlichkeit zu den Zierglöckchen an der Rüstung der kurz zuvor beschriebenen Ritter. (Solche Glöckchen sind für das Mittelalter tatsächlich bezeugt!) Gawan, Parzival und die meisten geschilderten Ritter haben einen verhängnisvollen Drang zur Fehde. Treffen sich im »Parzival« zwei Ritter, so streiten sie gegeneinander. Mehrfach fallen so nahe Verwandte versehentlich übereinander her. Wolfram macht keinen Hehl aus seiner Ablehnung dieses Verhaltens. Er thematisiert hier das noch nicht durchgesetzte staatliche Gewaltanwendungsmonopol. Aber noch extremer schildert er die französischen Fürsten im »Willehalm«: Diese erklären Willehalm ins Gesicht, sie wollten lieber zuhause Turniere austragen (das Turnier ist in der Tat eine damals recht junge französische Erfindung), als zusammen mit Willehalm das Reich gegen die Heiden zu verteidigen.

Getreu der eingangs besprochenen Zielsetzung des höfischen Romans beschränkt sich Wolfram in Personal und Darstellung auf das höfische Leben. Bei der Gralsgesellschaft ist gar kein unhöfischer »Unterbau« mehr erforderlich, da der Gral die Versorgung sicherstellt. Wie gezeigt wurde, greift Wolfram die großen Themen seiner Zeit auf, Tagespolitik spart er aus. Er schildert bei jeder passenden Gelegenheit umfangreich Aspekte des höfischen Protokolls, zur Orientierung seines Publikums.

Auch die kritischen Punkte, jene Fragen, die höfisches Leben zu sprengen drohen, greift er auf (darin über seine Vorgänger hinausweisend). Der Ausblick auf das Schicksal Loherangrins läßt erahnen, daß das Ziel, Gott und der Welt zu gefallen, stets neu errungen werden muß. Eine Patentlösung bietet Wolfram nicht. Die Unvollkommenheit auch der Gralsgesellschaft wird an etlichen Details deutlich. So muß etwa der fromme Greis Trevrizent Parzival gestehen, in seiner Diagnose teilweise geirrt zu haben.

Diesen verschlungenen, dynamisch-unfertigen Zustand spricht Wolfram auch in Prolog und Bogengleichnis an, ihn thematisiert er auch im zweiten Titurelfragment, wo Sigune den Knoten in der Erzählung des Brackenseils lösen möchte und ihr darauf das Tier mitsamt der Geschichte entweicht. (Ich kann nur hoffen, daß mit bei dieser Arbeit jenes Schicksal erspart geblieben ist.)

Retteten sich auch einige Begriffe jener Zeit wie »höflich« und »ritterlich« bis in unsere Tage, so war doch die praktische Wirkung der höfischen Romane begrenzt; nur zu bald setzte der Verfall ein. Viele der damaligen gesellschaftlichen Diskurse werden unter gewandelten Vorzeichen auch in unseren Tagen geführt, so etwa die Stellung der Frau, Verbindung von Liebe und Treue und der Umgang mit dem Fremden. Nur hat der Roman als Kunstform seine Orientierungsfunktion weitgehend verloren, möglicherweise an Film und Fernsehen, aus denen heute viele Menschen Rollenbilder, Hilfe und Anleitung zur Lebensbewältigung ziehen.

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